Bewertung von Aktenfluten mit Wikidata und juristischen Fachdaten

Das Landesarchiv Baden-Württemberg stellt nicht nur Quellen für die Erkundung unserer Vergangenheit bereit. Es hat auch heutige Entwicklungen für die Zukunft zu dokumentieren. Dazu gehören individuelle Geschichten, die nicht in den Medien auftauchen, weil Betroffene einen Anspruch auf Vertraulichkeit haben. Als Lösung darf das Landesarchiv einzelne Akten von lebenden Personen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, bei sich einlagern. Zu Lebzeiten der Betroffenenen bleiben sie unter Verschluss, erst zehn Jahre nach ihrem Tod werden sie als historische Quellen zugänglich.
Für Justizakten hat das Landesarchiv Verfahren entwickelt, um die vielen 100.000 Gerichtsakten, die jährlich im Land entstehen, massenhaft auf ihren bleibenden Wert zu prüfen, denn aus Kostengründen können nur wenige Akten erhalten bleiben. Es erhält dafür von der Justiz Metadaten über die Fälle. Die Kriterien für bleibenen Wert beruhen auf unterschiedlichen Anliegen, bespielsweise:
– durchschnittliche und extreme Lebenswelten abbilden
– neue Arten von Streitgegenständen abbilden
– politische Kriminalität (z.B. Landfriedensbruch) abbilden
– durchschnittliche Gerichtsverfahren abbilden, aber nicht zu viel davon (Aussagekraft)
– Fälle, bei denen es um besonders hohe Summen geht, abbilden
– Umgang mit prominenten Menschen aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Sport abbilden
– Interessen der Rechtswissenschaft abbilden
Die Kriterien sind schriftlich definiert und in der technischen Umsetzung wird versucht, diese Kriterien bestmöglich umzusetzen.
Im Prozess werden Daten von außen eingebunden, nämlich:
– Daten über Personen in der Wikipedia, übernommen von Wikimedia Deutschland.
– Daten über Gerichtsentscheidungen, erfasst von den Gerichten, übernommen von den Firmen JURIS GmbH und von OpenJur gUG.
Für die unterschiedlichen Gerichtssparten (vor allem Zivilgerichte, Strafgerichte mit den aktenführenden Staatsanwaltschaften, Arbeitsgerichte, Sozialgerichte) haben wir unterschiedliche Grade der Automatisierung erreicht. Die erste Softwaregeneration namens Selesta wird gerade durch einen modularen Baukasten auf Basis der populären Datenbankanwendung phpMyAdmin ersetzt.

Literatur:
E. Koch, K. Naumann, J. Rees, A. Riek, S. Schnell, F.-J. Ziwes, Bewertungsautomat statt Autopsie. Sind jetzt zehntausend Akten in zehn Sekunden bewertet?, in: Archivar 70 (2017) H. 2, S. 173-177. https://www.archive.nrw.de/sites/default/files/media/files/Archivar_2_2017.pdf
K. Naumann, Neues vom Bewertungsautomaten : Workshop über Selesta in Stuttgart und Ludwigsburg. In: Archivar 73 (2020) H. 1, S. 63-64. https://www.archive.nrw.de/sites/default/files/media/files/Archivar_2020_1_Internet.pdf
K. Naumann, F.-J. Ziwes, Crowd-based appraisal and description of archival records at the State Archives Baden-Württemberg, 2014. In: Archiving 2014 / Society for Imaging Science and Technology, (2014) S. 15-19. https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/Paper_Naumann_Ziwes_12.pdf
A. Pingen, A.-K. Steger, Unter der Lupe – Der Zugang zu Gerichtsentscheidungen in Deutschland, in: RuZ 4 (2023) H. 2, S. 205-222, https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/2699-1284-2023-2-205/

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